KOCHEN AM ABGRUND

Sascha Krieger
03.03.2012
stagescreen.wordpress.com

F.I.N.D. 2012 – August Strindberg (Fassung von Michail Durnenkow): "Fräulein Julie", Theater der Nationen, Moskau (Regie: Thomas Ostermeier)

Eine Frau kocht. Stumm und konzentriert steht sie über die Edelstahlküche gebeugt. Sie nimmt ein Hühnchen aus, schneidet Kopf und Füße ab, kocht es ganz in einem Topf. Das Geschehen auf dem Herd wird dokumentiert über eine Videowand. Von oben sehen wir, wie im Fernsehen – oder ist es eine Überwachungskamera? – die einzelnen Schritte. Methodisch, routiniert, zielstrebig geht sie vor. Minutenlang geht das so. Um sie herum fällt Schnee, von fern wummert Partymusik. Es ist Silvester, werden wir erfahren, und der, für den sie da kocht, ist ein Hund. Der russische Autor Michail Durnenkow hat Strindbergs Fräulein Julie ins heutige Russland übertragen und Thomas Ostermeier hat seiner Fassung eine Eingangsszene verpasst, die es in sie hat. Die Servilität der durchaus selbstbewussten, aber die Realität der bestehenden Verhältnisse akzeptierenden Kristina, das elegante, chromglänzende, kalte Ambiente, die Diskrepanz zwischen Datum (Silvesterabend), Aufwand (ein Huhn kochen) und Nutzen (Hund): Darin liegt schon das ganze Stück verborgen. Die Geschichte von der Tochter aus reichem Hause, die mit dem Chauffeur flirtet, die anschließende Eskalation, die eine Reihe ernsthafter Konflikte sichtbar macht und zur Explosion bringt, die weit über diese Beziehung hinausreichen, die beiden Protagonisten, die beiden von Fluchten träumen, dazwischen die den Chauffeur liebenden, ihre Ambitionen auf das Machbare reduzierende Kristina: Das passt auf die moderne russische Gesellschaft so sehr wie die sprichwörtliche Faust aufs Auge, dass es weh tut. Es ist eine Gesellschaft, in der sich reiche Töchter nehmen, was sie wollen, und in der Bedienstete in der Silvesternacht für Hunde kochen.

Dieser Abend, den Ostermeier am Moskauer Theater der Nationen inszeniert hat und jetzt im Rahmen des Festival Internationale Neue Dramatik (F.I.N.D.) an sein eigenes Haus, die Berliner Schaubühne, bringt, ist sein stärkster seit längerer Zeit geworden. Sorgfältig und spielerisch lässt er die ebenso komplexen wie fragilen Beziehungen entwickeln und macht immer wieder auch ihre Zerbrechlichkeit sicht- und spürbar. Wie Kristina und der Chauffeur miteinander umgehen, stets zwischen harmonischer Fassade und gegenseitiger Verletzung, wie Julie und ihr Bediensteter ein Spiel von Anziehung und Abstoßung spielen, das nie nur Spiel ist, wie die Jägerin ihre Beute verfolgt, die sich wehrt, windet und sich dann doch, geschmeichelt, erlegen lässt, das ist zwingend inszeniert, ein immer schneller wirbelnder Tanz, höchst unterhaltsam, aber nie oberflächlich. Denn den Abgrund, der sich unter dem Spiel auftut, inszeniert Ostermeier immer mit. Immer wieder lässt er kleine Brüche auftreten, die andeuten, dass aus dem Spielerischen, Kumpelhaften ganz schnell tödlicher Ernst werden kann.

Denn schließlich ist das alles vor allem ein Machtspiel. Julie kennt ihre Macht und setzt sie ein, aber sie gibt auch dem Gegenüber Macht über sie, die er zunächst scheut, dann aber bewusst ausnutzt. Durnenkows Russland ist wie Strindbergs Schweden eine streng hierarchische Klassengesellschaft, in der unten und oben wie gottgegeben angesehen werden, gerade weil es hier kaum jemanden gibt, der nicht "neureich" ist, also eben nicht seine Position ererbt hat. Umso wichtiger ist es, den Status zu zementieren, oben wie unten. Wer aus dem Muster ausbricht, gefährdet die Ordnung, wird zum Staatsfeind, angefeindet von unten wie von oben. Die Ordnung funktioniert nicht nur, weil die, die "oben" sind, die anderen knechten – sie ist vor allem auch von den Kristinas abhängig, die sich nicht nur knechten lassen, sondern das als den natürlichen Lauf der Welt ansehen.

Die Eskalation ist vorprogrammiert: Herrin und Knecht ziehen sich zurück, währen die Partygäste die Bühne in Beschlag nehmen. Das Schlachtfeld, das sie nach ihrem Tanz auf dem Vulkan hinterlassen, dienst als Symbol für den Scherbenhaufen, den die Grenzüberschreitung der Protagonisten hinterlassen hat. Die anschließende Eskalation mit ihren ständig wechselnden Opfer- und Täterrollen, den fluktuierenden Machtverhältnissen, den gegenseitigen Verletzungen inszeniert Ostermeier als wilde Mischung aus über die Stränge tretenden Tanz und unerbittlichen Kampf. Die Grenzüberschreitung hat beide aus der Bahn geworfen, ihr Machtverhältnis in Stücke zerschlagen, während um sie herum die Ordnung unangefochten gilt, wie auch der Schnee ununterbrochen fällt.

Es ist ein faszinierender Mix aus Farce und Tragödie, den Ostermeier hier spielen lässt. Lacher bleiben im Halse stecken, Machtkonstellationen bauen sich ebenso plötzlich auf, wie sie wieder zusammenfallen, die farcenhafte Überzeichnung kippt ohne Vorwarnung in tödlichen Ernst um. Wer an der Ordnung sägt, für den gibt es kein Spiel, der steht am Ende mit der Pistole in der Hand am Bühnenrand. Durnenkow und Ostermeier gelingt auf Basis des Stindbergschen Textes ein brutales und schonungsloses Portrait des heutigen Russlands, das mehr Universalität aufweist, als uns lieb sein kann.