"GLÜCK HABE ICH GENUG"

Simone Kaempf
03.03.2012
nachtkritik.de

"Fräulein Julie" – Thomas Ostermeiers hervorragende Moskauer Strindberg-Inszenierung auf Gastspiel an der Schaubühne Berlin

Erst einmal wird ein Huhn ausgenommen, säuberlich der Hals mit einer Stahlklinge durchtrennt und die Fußkrallen abgeschnitten. Eine Hand tastet in der Bauchhöhle nach den Innereien, die gallertartige Masse landet in der Chromspüle, wo das Blut und die Gedärme ihre Spuren hinterlassen und der Wasserstrahl die blutigen Schlieren langsam wieder verwässert.

Die Zubereitung des Silvesterhuhns durch Kristin, die Köchin aus August Strindbergs "Fräulein Julie", spielt sich an einem verchromten Küchenblock auf der Bühne ab. Und doch ist man äußerst dicht dran. Man folgt den Szenen in Nahaufnahme auf der Videoleinwand, die über der Spüle hängt. Von Anfang an wecken die Bilder Assoziationen an einen Seziertisch, aber auch an Überwachungskameras, die irgendwo im Bühnenhimmel zu hängen scheinen und die man doch kaum orten kann. Blutiges Inneres und hochpoliertes Design kommen hier auf eine Weise zusammen, die die Poren öffnet für das Gefährliche und Verlorene hinter dem Glatten, aber auch für das Innere der Machtverhältnisse, um die es im Folgenden geht.

Wer degradiert wen?

Die glasklare Schärfe der Bühne, eine atmosphärische Transparenz, die auch etwas klirrend Kaltes ausstrahlt, erinnert ganz klar an Thomas Ostermeiers Inszenierungen von Henrik Ibsens "Nora" und noch mehr von "Hedda Gabler". "Fräulein Julie" nun, Ostermeiers neuer Abend, der im vergangenen Dezember am Moskauer Theater der Nationen Premiere hatte und zum Auftakt des F.I.N.D. Festivals an der Schaubühne gastiert, muss diese Vergleiche nicht scheuen. Die Atmosphäre wirkt wie ein Gleitmittel, das Strindbergs Sozial- und Geschlechterwettkampf in materiell unterlegte Machtspiele überführt, in denen Pragmatismus, Geldinteressen und echte Gefühle kaum noch voneinander zu trennen sind.

Zu Kristin, die an der Spüle das Huhn kocht, kommt bald schon Jean, der soeben seinen Arbeitgeber zum Flughafen gefahren hat, und sich nun im Weinkeller des Hausherrn bedient und eine Flasche genehmigt, die genauso viel kostet wie Kristin in einem Monat verdient. Der Wein ist nur der Vorbote. Im Haus läuft Julies Silvesterparty. Die Musikbeats dräuen bedrohlich im Hintergrund, und vorne in der Küche entspinnt sich zwischen Julie und Jean eine Begegnung, unter deren Erotik ein ganzes Bündel weiterer Interessen lauert, die viele kleine Wendungen nimmt und sich in der Grauzone bewegt, wer hier eigentlich wen degradiert.

Zwingende Einladungen

Auch diese Ostermeier-Inszenierung hat eine starke Frau, die als höhere Tochter Julie agiert: die so agile wie schöne russische Schauspielerin Tschulpan Khamatowa, die lässig agil mit der Pistole wedelt, sich mal im Kühlschrank verkriecht und im pelzbesetzten Lederchic der Russin gleichsam Stolz und Verletztbarkeit ausstrahlt. Die Textbearbeitung hat das Stück ins Milieu der russischen Superreichen umgeschrieben, und wenn auf der Bühne auch alles so hyperrealistisch gestylt aussieht, entfalten sich doch ganz unterschwellig, subtil und präzise die inneren Machtkämpfe. Das beginnt schon, wenn Jean "ein gutes neues Jahr wünscht" und Julie mit zuckender Geste antwortet: "Glück habe ich genug". Sie trinkt in der Küche ihr Bier aus der Flasche, er schenkt sich das Bier demonstrativ in ein Glas ein. Lauter kleine Gesten, gespeist aus der Annäherung eines ungleichen Paars, aber auch als allgemeinere Prinzipien lesbar.

Der Abend entstand im vergangenen Dezember in Moskau unter besonderen Bedingungen. Draußen auf den Straßen nahmen die Demonstrationen zu, und Hauptdarsteller Jewgenij Mironow, der auch Leiter des Theater der Nationen ist, wurde während der Probenzeit in Putins Fernsehshow eingeladen. Eine Einladung, die er nicht ausschlagen konnte, weil von oberster Stelle das Geld für die Sanierung des Theater floss – man wüsste es nicht, hätte Ostermeier nicht vor vier Wochen im "Freitag" darüber geschrieben. Seine Inszenierung macht ins keinster Weise die Politik zum Thema, und doch dreht sich die scheinbar private Begegnung um ein Machtverhältnis, das entsteht, weil Jean schon aus finanziellen Gründen Julies Angebot zum Techtelmechtel gar nicht ausschlagen kann.

Der Exzess als Ventil

Mironow ist als Jean ein Kraftquell der Inszenierung. Von großer Präsenz und Ruhe, aber auch ungemein wendig und ein wenig windig. Einer, der die Verhältnisse offenkundig durchschaut und weiß, dass Julie ihre Macht demonstrieren muss, um ihre Minderwertigkeitskomplexe zu kaschieren. Und doch bringt diese Einsicht nichts, denn das Perfide sind die ständigen Strategiewechsel, die ungemeine Wendigkeit, mit der auch die Position des anderen eingenommen wird, um sie für sich zu gebrauchen. Im Bühnenhintergrund rieselt dazu unablässig Schnee, der etwas Warmes, Behagliches ausstrahlt. In einer Zwischenszene stürmt die Partygesellschaft die Designküche und hinterlässt in einem furiosen Partyexzess ein einziges Chaos auf der Bühne. Mironows weißes Anzughemd ist bald blut- und rotweinbetröpfelt, und wenn sich Khamatowas Julie abfahrbereit macht, trägt sie keine Voliere, sondern ihr Schoßhündchen in der Handtasche. Und doch wirkt nichts übertrieben, alles bleibt im subtilen Spiel. Die Ereignisse in der Realität scheinen sich ganz unterbewusst eingeschrieben zu haben, und der Exzess ändert sowieso nichts an den Verhältnissen, vielleicht ist er auch nur das Ventil, damit es weitergeht wie gehabt in dieser Inszenierung, mit der einen Ostermeier packt wie schon lange nicht mehr.