IGEL IM SCHÄDEL, DRECK AM STECKEN

Petra Rathmanner
05.19.2009
wienerzeitung.at

Der lettische Regisseur Alvis Hermanis zeigt bei den Wiener Festwochen Episoden aus der russischen Provinz

Da sind diese weißen Stiefel. Aus zartem Leder und mit hohen Absätzen, beinah einen Monatslohn wert. Der Arbeiter Sergey leistet sich das hochhackige Schuhwerk für seine Frau. So lange sind sie nun verheiratet, da will er ihr einmal ein Geschenk aus der Stadt mitbringen.

Im Dorf wird er dafür verlacht. So ein Trottel, heißt es, verjuxt sein ganzes Geld für Treter, mit denen man auf den Schlammwegen im Bauernkaff ohnehin keinen Meter weit gehen kann. Die Frau ist dennoch außer sich vor Freude. Minutenlang versucht sie, auch mit Hilfe ihres Mannes, den zarten Schaftstiefel über ihre Bauernfüße zu stülpen. Das Schuhwerk will und will nicht passen.

Der Theaterabend "Schukschins Erzählungen" des lettischen Regisseurs Alvis Hermanis, setzt sich im Museumsquartier (Halle G) aus Alltagsepisoden zusammen, die in der verarmten russischen Provinz spielen.

Trunkenbolde, Tunichtgute

Jeder der acht Darsteller verkörpert in den acht (nicht verbundenen) Erzählungen mehrere Figuren, sie sind zugleich Akteure und Erzähler. Weitab von Folkloreschick sind die Schauspieler in schlichte Arbeitskleidung gewandet: Die drei Frauen tragen Kleider mit übergroßen Blumenmustern, bunte Plastikperlenketten und Kopftücher. Bei jedem Szenenwechsel wechseln sie auch die Rollen, sind listige Weiber und sorgenvolle Mütter, arrogante Städterinnen und hingebungsvolle Schönheiten. Die Männer tragen schlecht sitzende Anzüge, fleckige Unterhemden und geflickte Pantoffeln; sie verkörpern heimkehrende Söhne, versoffene Väter oder leidenschaftliche Liebhaber. In fast jeder Szene stimmt einer ein Lied an, häufig wird getanzt.

Die Bühne dieses ruralen Weltpanoramas besteht aus einer raumfüllenden Bankreihe sowie wechselnden Fotowänden, die Porträt – und Landschaftsaufnahmen der Bewohner des Bauerndorfs Srostki zeigen, dem Heimatdorf des Autors dieser Erzählungen. Wassili Schukschin (1929 bis 1974), ein weitgehend vergessener Schriftsteller und Filmregisseur, erlangte in den 60ern einige Berühmtheit für seine literarischen Betrachtungen des Dorflebens. Seine kantigen Helden sind lebenshungrig und stur, aggressiv und melancholisch – und von eigentümlicher Unruhe befallen: Sie haben "einen Igel unter der Schädeldecke", sehen die Wirklichkeit durch das "diamantene Auge der Einbildungskraft". Selbst bei vermeintlich banalen Handlungen wie dem Kauf eines Schuhs geht es in Schukschins Texten, die vorzugsweise die Themen Liebe, Gewalt und Alkoholmissbrauch variieren, immer auch um Existenzielles.

Die humorvollen Schukschin-Texte sind wie geschaffen für den Theatermacher, der sich bereits in vielen Arbeiten – siehe "Langes Leben" oder "Väter" – als präziser Beobachter von Alltagswelten empfohlen hat. Für "Schukschins Erzählungen" reiste Hermanis eigens nach Srostki. Die Regie ist indes keineswegs eine ethnografische Abbildung des Dorflebens, es geht vielmehr um "anthropologisches Theater", das sich auf die Suche nach der Darstellung authentischer Typen begibt.

Der dreistündige, so wenig realistische wie dokumentarische Abend ist reich an genau beobachteten Gesten, dazu geprägt von minimalistisch-strengem Spielstil und verblüffenden Regieeinfällen. Als Motto könnte gelten, was Hermanis einst apodiktisch in einem Interview äußerte: "Das Leben einer realen Person ist mehr wert als alle Stücke Shakespeares zusammengenommen."