WIENER FESTWOCHEN: WER SORGEN HAT, DER HAT AUCH WODKA

05.24.2009
welt.de

Breschnew liebte ihn, dennoch galt er als Beinahe-Dissident: Wassili Schukschin ist hierzulande vor allem durch seinen Film "Roter Holunder" bekannt. Jetzt hat der Regisseur Alvis Hermanis eine Theateraufführung rund um "Schukschins Geschichten" geschaffen. Bald kommt sie nach Hannover. Eine seltsame Mischung: fast ein Dissident und doch fast ein "Held der Sowjetunion". Wassili Schukschin, der Autor, Schauspieler und Filmemacher, wurde eben allseits geliebt. Das Spektrum der Verehrer könnte breiter nicht sein, es reichte von Leonid Breschnew bis Aleksandr Solschenizyn. Als Schukschin, erst 45 Jahre alt, anno 1974 plötzlich verstarb, stand die Metropole Moskau angeblich für ein paar Augenblicke still. Sein knapp davor fertig gestellter Streifen "Roter Holunder" (Russischkenner bemängeln regelmäßig die falsche Übersetzung von "Schneeballstrauch") machte ihn zur Kultfigur.

Eine solche ist auch, zumindest im europäischen Bühnenbezirk, der lettische Regisseur Alvis Hermanis. Seit längerem schon pilgern Intendanten und Festspielleiter in sein Haus, das "Jaunais Rigas Teatris". Die Folge: Kein größeres Festival ohne einen Beitrag von Hermanis. Umgepolt wurde inzwischen die Verheißung "ex oriente lux": Nun verspricht man sich bei uns vom theatralischen Nordlicht Erleuchtung.

Das Besondere an seiner jüngsten Produktion, "Schukschins Erzählungen": Erstmals hat Hermanis mit russischen Darstellern in Moskau gearbeitet, im "Theater der Nationen". Was uns als Selbstverständlichkeit erscheint, ist dort – aufgrund der konfliktreichen Geschichte zwischen Letten und Russen – naturgemäß keine. Umso freundlicher, geradezu enthusiastisch die Moskauer Reaktion: Man fühlte sich, man fühlte den "russischen Menschen" von Hermanis verstanden. Die einflussreiche Tageszeitung "Iswestija" jubelte über ein "sonniges Stück", pries den "Geruch das wahren Lebens".

Auch bei den Wiener Festwochen, wo die Aufführung ihre Premiere im deutschsprachigen Raum hatte, wurde das Publikum auf starke Emotionen eingestimmt: Drei Stunden Weinen und Lachen sollten uns beschert werden. "Das ist lang anhaltende Erbauung", bemerkt der Dramaturg Roman Dolschanski treffend im Programmheft, "etwas, das man im heutigen Theater selten erlebt". So lange hielt die Erbauung in Wien freilich nicht an, weil von den ursprünglich acht Episoden eine beim Transport offenbar zurück geblieben ist. Es dürfte kaum jemandem im Saal aufgefallen sein. Die Trauer über den Verlust hält sich jedenfalls in Grenzen: Verkürzte Erbauung ist immer besser als verlängerte, leider nicht ganz so gut wie gar keine.

Damit kein Missverständnis aufkommt. Da wird glänzend gespielt, vor allem von den beiden Stars des Abends, Jewgeni Mironow und Chulpa Hamatowa, die in eine Vielzahl von Rollen zu schlüpfen haben. Die Figuren werden von ihnen buchstäblich und mit großer Intensität verkörpert. Ihr Verwandlungsreichtum beeindruckt – ob sie jung oder alt sein müssen, verzweifelt oder euphorisch, ob sie tanzen oder singen: Sie wirken mehr als routiniert, sie wirken perfekt, sind Virtuosen ihres Fachs. Trotzdem: Ihre Nachdrücklichkeit hat auch etwas Holzschnittartiges.

Einfache Leute vom Land, Kolchosebauern und -arbeiter, sitzen, bewegen sich auf einer einfachen, armen Bühne: Nichts als aneinander gereihte Holzbänke vor jeweils pro Szene wechselnden Riesenfarbfotos der Bewohner von Strotski, Schukschins Geburtsort im sibirischen Altai. Dessen erzählte und gespielte Kurzgeschichten sind, kein Zweifel, aus dem so genannten Leben gegriffen, Hermanis betont es beinah aufdringlich. Hier treten Spinner, Träumer und Versager auf, Babuschkas, keifende Ehefrauen und eine geile, böse Krankenschwester. Wer Sorgen hat, der hat auch Wodka. Ein gutmütiger Trottel flieht kurz vor Haftende aus dem Gefängnis, vor lauter Sehnsucht nach Familie und Heimaterde. Er landet wieder hinter Gittern, dem taubstummen Schwesterchen bricht es das Herz. Ein Wunder zum Schluss: Der Schmerz löst der Stummen die stammelnde Zunge.

Ja, das ist schön und poetisch und ergreifend – und es menschelt allzu arg. Denn die postulierte Zeitlosigkeit der Typen, eines ewigen Volkscharakters schlechthin, geht Richtung sentimentales Klischee. Ideal für Wiener Zuschauer, deren Gemüt der berühmt-berüchtigten russischen Seele gleicht. Wie eiskalt ist dies Händchen, sagt Mütterchen Russland zu Väterchen Frost. Wen derlei erbaut, der wird in "Schukschins Erzählungen" à la Hermanis sein trautes Glück finden.