FESTWOCHEN: FEIERN & WODKATRINKEN, SO LIEBEN WIR UNSERE RUSSEN!

Die Presse
05.18.2009

Der Lette Alvis Hermanis zeigt "Schukschins Erzählungen" im Museumsquartier. Der gut gemachte Edelkitsch gefiel dem Publikum.

Ein Mann flieht, kurz bevor er entlassen wird, aus dem Gefängnis. Er wird verhaftet und gleich noch einmal zwei Jahre eingesperrt. Ein ehemaliger Soldat heiratet ein tüchtiges Mädchen. Er findet jedoch nicht zurück ins zivile Leben, liebt das Tanzen und Trinken mehr als die Arbeit, schlägt seine Frau – und legt sich schließlich unter den Gashahn. Ein unscheinbarer Bursche wirbt mit seinem Vater um ein schönes Mädchen, das sich gerade einen Mann mit Zukunft geangelt hat – und kriegt es, oh Wunder...

Aus Moskau kommen "Schukschins Erzählungen" in der Regie des lettischen Regisseurs Alvis Hermanis (44) – bis morgen, Mittwoch, im MQ. Dass diese Produktion den Russen gefallen hat, ist verständlich. Wassili Schukschin (1929–1974), der das Leben der kleinen Leute schilderte und filmte (Filmmuseum 22.5–1.6.), war ein Volksheld.

In Lettland wird man sich, wenn auch wohl mit bitterem Beigeschmack, ebenfalls amüsieren über die allzu menschlichen Seiten der ehemaligen sowjetischen Besatzer des Baltikums. Schukschins Stil ist ungefähr zwischen Tschechows Kurzgeschichten und Daniil Charms (1905–1942) angesiedelt. Charms wurde von der Stalindiktatur verfolgt und starb im Gefängnis; Kurzgeschichten ("Der Bär", "Der Heiratsantrag") von Tschechow und "Theaterfallen" von Charms waren im Burg-Vestibül zu sehen.

Hermanis lässt Schukschins absurde Episoden auf einer langen Bank vor fotorealistischen Aufnahmen aus dem Heimatdorf des Dichters im sibirischen Altaigebirge spielen. Die abgebildeten Menschen – Krankenschwestern, eine Ladenbesitzerin, Senioren, einer mit Ziehharmonika – sind wohl bewusst wie die überhöhten Repräsentanten des Sowjetregimes dargestellt. Die Botschaft lautet: Dies ist eine Geschichte über Menschen und Natur (Bühne: Hermanis und Monika Pormale). Die russischen Schauspieler sind hinreißend, allen voran der Protagonist der meisten Geschichten, Jewgeni Mironow, aber auch die anderen: Chulpan Hamatowa, Pawel Akimkin, Alexander Grischin, Nataliya Nosdrina, Alexander Nowin, Julia Sveschakowa und Dmitry Schurawljow. Trotz ihrer zungenbrecherischen Namen muss man sie unbedingt nennen, weil sie sich über zwei Stunden (mit einer Pause) blitzartig verwandeln und zeitweise sogar ihr Geschlecht wechseln. Die Theaterlust, die diese Akteure verströmen, steckt einfach an. Auch die Atmosphäre im Saal ist ansprechend. Die russische Community amüsierte sich königlich, die meisten anderen wohl auch, trotz der lästigen Kopfhörer. Keine Einwände also? Doch. Erstens sind die Geschichten unterschiedlich stark, manche sind bloß mäßig spannende Erzählungen vom russischen Landleben. Zweitens vermittelt die Produktion ein recht euphemistisches Bild von der Realität. So malerisch, heiter, ein bisschen bizarr, im Großen und Ganzen aber elegant und liebenswürdig ist die Wirklichkeit nirgendwo.

Es ist schön, dass sich das Theater nach Jahrzehnten der kalten Analysen wieder seiner ureigensten Aufgabe, Emotionen zu wecken, zuwendet. Aber es muss aufpassen, dass es dabei nicht in die Gasse des multikulturellen Einheitsbreis kommt, wo wie in Hollywood jede Tragik, aber auch jede echte Eigenart heruntergebrochen wird auf feel good, well designed, schmackhaft und tröstlich. Mit authentischer Kunst hat das dann nicht mehr viel zu tun.