AUFSTIEG DER DICKKÖPFE

Georg Petermichl
05.17.2009
nachtkritik.de

"Schukschins Erzählungen" – Alvis Hermanis reist in die sowjetische Vergangenheit

In einer Dorfgemeinschaft werden Anomalitäten wie Verdachtsmomente behandelt. Dort, wo Arbeiterhände mit Spucke gereinigt werden und Frauen einen herben Umgangston samt festen Händedruck vorweisen können – dort wird Veränderung mit unverhohlenem Widerwillen Willkommen geheißen: "Was strahlst du, wie ein nackter Arsch im Mondenschein?", geifert seine Frau (Chulpan Hamatowa), während sich Andrei (Jewgeni Mironow) an ihr und ihrem Putzlappen vorbei winden möchte.

Mit seinen Händen umklammert der einfache Arbeiter ein Mikroskop, das seine Zukunft als bahnbrechender Mikrobenforscher besiegeln soll. Dieser dünnstimmige Softi hat seine Beine stocksteif zusammengestellt, wenn die geehelichte Bissgurn sich breitbeinig nähert. Und trotzdem flunkert er fanatisch, sobald das technische Gerät und der angeblich verloren gegangene Lohn zur Sprache kommen.

Mikroskop futsch, Alkohol her

In den festen bäuerlichen Strukturen der sowjetischen Kolchosegemeinschaften hat Andrei den Weg des verschrobenen, familienuntreuen Eigenbrötlers eingeschlagen. Sturköpfig opfert er also das Familienersparte für einen Traum und hofft dennoch möglichst unbemerkt aus einem rigiden Rahmen zu fallen. Er fällt. Und trotzdem hat seine Geschichte keine Moral parat: Mikroskop futsch, Alkohol her und doch ist ein Funke seiner naturwissenschaftlichen Begeisterung auf seinen Sohn übergesprungen.

Andrei stellt eine von insgesamt acht Männergestalten in Alvis Hermanis "Schukschins Erzählungen" dar, die mit ihren beschränkten Mitteln nach dem Unerreichten greifen wollen. In acht, jeweils etwa fünfzehn Minuten langen Episoden fokussiert der lettische Theatermacher den Aufstieg der Dickköpfigen und sucht im aufgescheuchten Umfeld nach dem fundamentalen Wesen der Gemeinschaft.

Researchtrip nach Sibirien

Alvis Hermanis, Träger des Europäischen Theaterpreises 2007, gilt als akribischer Beobachter des Alltags. Wiederholt hat er sich die jüngere Vergangenheit seines Landes, wie z.B. in den "Lettischen Geschichten" (2005) oder der "Lettischen Liebe" (2006), zum Thema genommen und die Lebenshintergründe von Recherchebekanntschaften zu Bühnenfiguren verdichtet. Mit seiner Bearbeitung von Wassili Schukschins Kurzgeschichten führt er diese Arbeit fort. Das Ensemble des Moskauer Theaters der Nationen schickte er auf Researchtrip in die Geburtsstadt des klassischen Sowjetautors. In Srostki, Sibirien, sollte sich das Team jene Lebenslagen aneignen, die Schukschin schon ab den 1950er Jahren zu seinen verschrobenen und latent systemkritischen Theater-, Film- und Roman-Protagonisten inspirierten.

Insgesamt lässt sich Alvis Hermanis neueste Produktion, die nun bei den Wiener Festwochen ihre Premiere im deutschsprachigen Raum feierte, als Geniestreich verbuchen: Auf der Suche nach dem lettischen "Wesen", hat er sich einem russischen Lieblingsautor zugewandt. Dieser Zug hat ihm begeisterte Kritiken in Russland eingebracht. Gleichzeitig verabschiedet er sich von einer typisch baltischen Theatersprache, die nach modernen Lebensgrundlagen in der westlichen Kultur und in Abgrenzung zu Russland sucht.

Als wär's ein Laufsteg

Auf der Bühne in der Halle G des Museumsquartiers hat sich die Naturverbundenheit der Protagonisten in ihre Kostüme zurückgezogen. Die Hemden, die Krawatten, die bodenlangen Röcke und die Kopftücher der tüchtigen Dorfleute sind allesamt in Blumenmuster gelegt und konterkarieren mit dieser entzückenden Albernheit die hochtrabenden Belange ihrer Träger. Hermanis hat ihnen eine Plattform aus Hellholzlaminat gelegt und lässt zu deren Abgrenzung Porträt- und Landschafts-Blowups von Srostki aufstellen. Davor steht eine meterlange, solide Wartebank. Auf ihr rottet sich die Dorfgemeinschaft zu verschwörerischen Klüngeln zusammen. Als wär's ein Laufsteg, stolziert man darauf mit geschwellter Brust. Genauso gut wird diese Bank auch zum Schwebebalken, auf der die Figuren ihren Halt verlieren.

Acht Schauspieler verstricken ihre Charaktere in das Streben nach Liebe, Anerkennung, Luxus oder auch Heimat. Liebevoll changieren sie im Mix aus Slapstick, Ausdruckstanz, Erzähl- und Posentheater, während ihre Wunschvorstellungen auf unbändigen Stolz, auf Vorurteile, Trägheit oder Borniertheit prallen. Nostalgie und Pathos haben in "Schukschins Erzählungen" eine bemerkenswerte Leichtfüßigkeit gefunden. Jewgeni Mironow und Chulpan Hamatowa sind die beiden Stars dieses gefühlvoll inszenierten Abends. Im Juni werden sie mit dem Stück übrigens auch bei den Theaterformen in Hannover gastieren.