DOSTOJEWSKI ALS FERNSEHSTAR

Neue Zürcher Zeitung
06.18.2004
Maja Turowskaja, Deutsch von Rosemarie Tietze

"Der Idiot" trifft im TV-Serienformat den Nerv des russischen Publikums

Eine zehnteilige Fernsehadaption von Fjodor Dostojewskis "Der Idiot" begeistert in Russland die Masse – wie vor 135 Jahren der Roman, der in Fortsetzungen erschien: ein Stoff voller Manien und Phobien, doch auch voller Glaube an die menschliche Güte.

Vorzeiten schrieb ich einmal, Dostojewski sei der geborene Verfasser von Filmdrehbüchern gewesen. Die Erkenntnis war richtig, wenn auch ungenau: Er war der geborene Verfasser von Fernsehserien. Bloss wussten wir seinerzeit von Serien noch wenig.

Ende des vergangenen Jahrhunderts tauchten tief in der russischen Provinz so exotische Vornamen wie "Isaura" oder "Alberto" auf, den rettenden Gemüsegarten nannte man "Fazenda" – eine Folge lateinamerikanischer Seifenopern. Diese Zeit ist um. Heute zieht man beim Fernsehgerät nach wie vor das ausländische Fabrikat vor, bei der Fernsehserie aber das inländische. Da arbeits- und kapitalintensiver als U-Literatur, kam die Serienproduktion langsamer in Schwung als der Buchmarkt, begann jedoch ebenfalls mit allerlei Krimis; so wollten es die Bedingungen des Lebens, nicht nur die des Genres.

Wie vor 135 Jahren

Nun hat die Stunde geschlagen: Neben der Krimiserie "Brigade" wurde beim gleichen Sender RTL, mit dem gleichen Produzenten Waleri Todorowski, einer der berührendsten Romane der russischen Literatur zum nächsten Hit – Dostojewskis "Idiot". Ein durchaus unüblicher Fall in der Praxis des Genres, das nicht sonderlich zu historischer Kostümierung neigt. Indes erinnert die Reaktion des heutigen russischen Publikums auf kuriose Weise an einen Brief, der vor 135 Jahren Dostojewski zuging: "... ist die Masse, ja, sind zweifellos alle begeistert! Im Klub, in den kleinen Salons, in den Waggons der Eisenbahn, überall hört man nichts anderes als: Haben Sie Dostojewskis letzten Roman gelesen?" Der Unterschied ist nur, dass die heutige "Masse" der Zuschauer eher "allen" entspricht, als das seinerzeit bei der Zeitschrift "Russkoje bogatstwo" der Fall war (der Roman wurde, wie die TV-Serie, in Fortsetzungen veröffentlicht). Die Verfilmung fuhr eine reiche Ernte russischer Auszeichnungen ein. Regisseur und Hauptdarsteller erhielten auch den Solschenizyn-Preis, der damit erstmals nicht der Literatur, sondern dem Film zufiel. Die Zuschauerquote bei dem "schwierigen Klassiker" ist erstaunlich hoch. Der Roman ist in Buchhandlungen und Bibliotheken derzeit unauffindbar – das russische Publikum liest immer noch gern.

Mit einem aussergewöhnlichen Protagonisten, einer gefallenen Frau, "schicksalsträchtigen Leidenschaften" und dem Untergang aller vier Hauptpersonen widersetzt sich die Geschichte (wie überhaupt das gesamte Werk des Klassikers) allerdings auch nicht den Lockungen der "Boulevardisierung". Doch haben eben nicht die der Massenkultur viel näheren vorrevolutionären "Petersburger Elendsquartiere" von Krestowski beim Fernsehen Karriere gemacht. Somit traf ausser dem Thema und der historischen Kostümierung (vielleicht auch ihnen zum Trotz) etwas anderes den Nerv der Zeit und liess den alten Roman zeitgemäss und brandaktuell werden.

Neben Hamlet und Tschechows Iwanow kommt Fürst Myschkin, dem "Idioten", in unserer Kultur nicht nur eine ästhetische, sondern auch eine Zeichenfunktion zu. Nicht zu vergessen die Rolle der Kultur selbst, die, ob russisch oder sowjetisch, früher alle Sphären des gesellschaftlichen Bewusstseins umfasste. Pyrjews Verfilmung des "Idioten" von 1958 war ein Zeichen des "Tauwetters". Aber als am letzten Tag des Jahres 1957 der damals noch völlig unbekannte Innokenti Smoktunowski in Towstonogows Leningrader Inszenierung die Rolle des Fürsten Myschkin spielte, wirkte das wie eine Explosion. Ob Enthusiasten oder Skeptiker, ob wohlhabend oder nicht, fuhren wir damals alle nach Leningrad, um die Legende zu überprüfen. Es war keine Legende, es war ein Wunder.

"Der Idiot" im Theater...

Dieser "wahrlich wunderbare Mensch", fremdartig, doch wie von innen leuchtend, war offenkundig "anders" – sei er nun aus der fernen Schweiz, aus dem Kokon des Wahnsinns oder direkt aus Dostojewskis Welt auf die sowjetische Bühne geraten. Alles an ihm war ungewöhnlich, von der Stimme über die Augen bis zu den Bewegungen. Wenn er unsicheren Schrittes die Rampe entlangging, warf er ab und zu einen Blick in den Saal, und jedem (ich sah die Aufführung zweimal, von unterschiedlichen Plätzen) kam es vor, als hätte er einen bis auf den Grund des Herzens durchschaut. Er reckte seine lange, geschmeidige Hand, um eine Tür aufzusperren oder den Gesprächspartner zu berühren, und das war ein Fingerzeig. Die hervorragenden Schauspieler, mit denen er auftrat, waren Theater; Myschkin war der "Frühling der Welt", wie Professor Berkowski ihn nannte. Der Schauspieler fürchtete sich nicht vor dem Wort "Idiot", aber das Wort "Genie" wurde für ihn zum Eigennamen. (Den Hamlet sollte er später im Film spielen.) Das noch eisige nachstalinistische Land schien auf diesen alles überstrahlenden Blitz reiner Menschlichkeit nur gewartet zu haben. Das Theater war damals, mit Gogols Wort, noch "Katheder"...

Der triumphale Erfolg des heutigen "Idioten" hat auf den ersten Blick nichts mit der Vergangenheit gemein. Das Fernsehen ist eher Geschichtenerzähler als Katheder. Die Kultur hat aufgehört, unser "ein und alles" zu sein, sie hat sich ins Reservat des Zeitvertreibs zurückgezogen. Wladimir Bortko, der Regisseur der Serie, sieht sich nicht als "Künstler", sondern als Profi (davor hat er die Erfolgsserien der "Petersburger Banditenwelt" gedreht, nun ist "Stalin" im Gespräch). Das Motiv des "Idioten", mag er auch ein Narr in Christo sein, interessiert ihn nicht. (Zur Erinnerung: Als Tarkowski über eine Verfilmung des Romans nachdachte, wollte er sich seinen Myschkin nicht in der Schauspielerzunft, sondern im Irrenhaus suchen.)

...und im Fernsehen

Hingegen hat das Fernsehen den gewichtigen Vorzug, dass der Roman in zehn Serienteilen ziemlich vollständig unterzubringen war, mitsamt den Manien und Phobien des grossen Schriftstellers, die nicht immer einnehmend sind. Der Regisseur hat, mit wenigen Ausnahmen, die männlichen Rollen überragend besetzt. Mit der weiblichen Besetzung hatte er weniger Glück, und mit der "infernalischen" Nastassja Filippowna, um die sich die Handlung spiralförmig windet, erlitt er gar ein völliges Fiasko. Aber dank der Vielschichtigkeit und Komplexität des Romans hat sogar dieser empfindliche Verlust das Ganze nicht zerstört. Zu den wichtigsten Partnern des Fürsten wurden – statt der beiden Rivalinnen, der gefallenen Filippowna und der eigenwilligen Aglaja Jepantschina – sein Antipode, Rivale und Nennbruder, der Kaufmann Rogoschin (Wladimir Maschkow) und die zänkische, aber herzenskluge Generalin Jepantschina (Inna Tschurikowa).

Im Grunde hatte die Serie bereits gewonnen, als für die Rolle des Fürsten Myschkin ein Darsteller von grösster Sensibilität und makelloser Tonalität gefunden war: Jewgeni Mironow (Maschkow und Mironow stammen im Übrigen aus demselben "Stall", sie sind die erfolgreichsten Absolventen von Oleg Tabakows Theaterstudio). Mironow hatte bereits Gelegenheit, den Hamlet zu spielen, und zwar unter der Regie von Peter Stein: nicht Hamlet, den Prinzen, sondern Hamlet, den Vaterlosen; seine Alltäglichkeit wurde von kaum einem Kritiker gewürdigt, dafür sprach sie ähnlich vaterlose, "neureiche" Zuschauer an, die Shakespeares Stück nicht gekannt hatten. Im Vergleich zu Smoktunowskis damaliger Offenbarung ist der jetzige Fürst Myschkin eher alltäglich – freundlich naiv, dabei erstaunlich verständnisinnig, aufrichtig bis zur Idiotie und mit seltsam scharfem Blick für die Körnchen des Guten in jedem Herzen, auch dem verkommensten.

Dostojewski wählte nicht die Komik (wie im "Don Quijote"), sondern die Krankheit, um diese masslose (und, sei hinzugefügt, lebensgefährliche) Güte dem Leser sympathisch zu machen, und Mironow bringt sie mit aller Natürlichkeit herüber. Unter dem Blick seiner (ganz nach Dostojewski) blauen Augen, die Böses nicht wahrnehmen, kann niemand, ganz gleich, ob Diener oder gewichtiger General, ob Mätresse, Lump, Lügner, Nihilist oder Ehebrecher, so bleiben wie zuvor, ohne sich gebessert zu haben.

Es steht zu vermuten, dass die Fernsehserie ihre Beliebtheit beim Publikum nicht nur den radikalen Handlungsumschwüngen verdankt, mit denen Dostojewski niemals spart, oder seinen – neuerdings wieder modischen – Phobien (Antikatholizismus, Antinihilismus), sondern eben dieser leise hartnäckigen, unheilbaren Güte und Menschlichkeit, die in der enttäuschten, zynischen Welt von heute so defizitär sind.