HOCHSTAPLER IN DER KIRCHE

Berliner Morgenpost
09.20.2003
Peter Hans Göpfert

Vergesst Mussorgski, entdeckt Puschkin: "Boris Godunow" eröffnet die Festwochen

Auf der Bühne intonieren die Popen ausgiebig klerikale Litaneien und spenden Weihrauch. Das Publikum sitzt zu zwei Seiten im Kirchengestühl. Historische Fiktion und heutige Wirklichkeit stimmen in der schönen Parochialkirche überein. Auch der britische Regisseur Declan Donnellan versucht in seiner Moskauer Inszenierung des "Boris Godunow" von Alexander Puschkin die Symbiose aus Damals und Heute. Sie gelingt ihm weniger überzeugend.

Das Stück vom mutmaßlichen Königsmörder Boris und dem falschen Zarewitsch Dimitri, der in Polen ein Heer formiert und in Moskau den Zarenthron erobert, ist hierzulande nicht vorhanden, es wird völlig durch Mussorgskis Oper überlagert.

Alexander Puschkin (1799-1837) wollte ein Stück nationaler Historie schreiben. Bis heute ist nicht entschieden, ob es mehr als Komödie oder als Tragödie angesehen werden soll. Bei Donnellan tragen die Mächtigen und Intriganten, die Heuchler und Apparatschiks Anzug und Krawatte von heute. Im Fernsehen wird Dimitris Einnahme Moskaus bekannt gegeben. Und der wendet sich per Mikrofon an die "slawischen Söhne", die er in die Schlacht führen will. Die "Aktualisierung" bleibt Oberfläche.

Die Inszenierung setzt auf rasche Abfolge der vielen geschichtlichen Szenen. Die Akteure bewegen sich auf einer langen Stegbühne in der Mitte des Publikums. Rituelle Handlungen, Krönung und Leichenbettung Boris Godunows werden ausgiebig zelebriert. In der Schenke an der litauischen Grenze, wo der kleine Mönch beinahe von den Spürhunden des Zaren erwischt wird, ist mächtig was los, Volksmusik-Sendung im TV inklusive. Im Haus des polnischen Adligen Mnischek wird dekorativ getanzt. Der Brite Donnellan kommt aus der Freien Szene. Hiervon ist seine Ästhetik geprägt.

Im polnischen Kapitel hat die Aufführung, die bemüht ist, Verfestigungen aufzulösen, aber dennoch die Schauspieler in schematischen Rollenauffassungen gefangen hält, einen darstellerischen Höhepunkt. Verliebte Männer können mitunter leichtfertig dämlich sein. So auch Dimitri, als er Mischniks Tochter Marina seine wahre Identität verrät und erwartet, sie werde ihn auch als einfachen Menschen lieben. Denkste. Die schöne und ehrgeizige Polin entscheidet politisch. Sie will dem Hochstapler erst gehören, wenn er fest im Moskauer Zarensattel sitzt. Irina Grineva und Evgeny Mironov spielen Zögern und Zärtlichkeit, Verachtung und Hingabe mit großer Konzentration. Schade nur, dass Donnellan die Szene in einem aufgeklappten Pool verwässert. Das in Puschkins Drama entscheidende Element "Volk" bleibt nebensächlich und anekdotisch. Die hoch berühmte Schlussszene, in der die Masse stumm bleibt und die Heilsrufe auf den neuen Zaren verweigert, erstarrt zum abstrakten Kostüm-Tableau.

Der Betrachter hat bei diesem reißerisch vergröberten "Boris Godunow" den Eindruck, einer Freilichtaufführung in geschlossenem Raum zuzusehen. Sie besitzt zweifellos eine eigene Handschrift und besonderen Rhythmus. Als Paukenschlag zum Auftakt der Festwochen und ihres "Russland"-Schwerpunkt taugt sie aber wenig.