BUEHNE BRENNT!

Tagesspiegel
09.25.2003
Christoph Funke

Geballte Ensemblekunst und musikalischer Glanz, getragen von einem mächtigen Theater-Apparat, das wird Anfang November beim Gastspiel des Mariinsky-Theaters St. Petersburg in der Deutschen Oper zu erleben sein. Das Schauspiel innerhalb des russischen Festwochen-Schwerpunkts gibt sich bescheidener. Hier dominieren Miniaturen, die auf den konventionellen Theaterraum überlegen verzichten. Nicht ein zahlenmäßig großes Publikum wird eingeladen, sondern eine kleine Schar von Neugierigen, die sich auf das Ungewöhnliche einlassen will, auf Intimität und Fantasie. Eine Ausnahme, im Anspruch an geschichtliche und räumliche Dimension, gab es dabei doch: die Aufführung von Puschkins Versdrama "Boris Godunow" durch russische Schauspieler unter der Leitung des britischen Regisseurs Declan Donnellan in der Berliner Parochialkirche.

"Boris Godunow" ist von einer nüchternen, überlegenen Betrachtung geschichtlicher Abläufe geprägt. Ein Herrscher kommt, ein Herrscher geht, der eine ist so beliebig wie der andere. Nur Ungerechtigkeit und Grausamkeit bleiben. Declan Donnellan stützt sich in seiner Inszenierung auf dieses nüchterne Wissen um die Vergeblichkeit aller hochfliegenden Anläufe zu Vernunft und Menschlichkeit. Er verfährt dabei unaufgeregt, fast lässig. Das Spiel findet auf einem raumgreifenden, nach allen Seiten offenen Podest unter dem Kuppelraum der Parochialkirche statt. Das Kommen und Gehen auf dieser durch Stufen erreichbaren Welt zeigt die Genauigkeit und die Beliebigkeit der Vorgänge zugleich. Die Szenen fließen ineinander, Entfernungen werden aufgehoben, fast alle Spieler verkörpern mehrere Figuren, es herrscht ein flirrender Zeitenwechsel – es ist, als wären alle am Machtkampf um den Zarenthron Beteiligten immer da, und zugleich auch immer im Dunkel außerhalb des Podestes. Sie gehören zusammen, auf welcher Seite sie auch stehen, und sie bewegen nichts. Am Ende, als der falsche Dimitri am Ziel ist, steht das Ensemble wie erstarrt da: der steife Schrecken über etwas Neues, das dem Alten gleicht. ...