EIN KLASSIKER, WELL MADE

Neue Zürcher Zeitung №196
08.25-26.2001
Alexandra Kedveš

Declan Donnellans Inszenierung von "Boris Godunow"

"Bravo, Puschkin! Bravo, verdammter Kerl!" – Und er sah, dass es gut war, sein erstes Drama. Nur die Welt sah es lange nicht: "Boris Godunow" wurde erst 33 Jahre nach Alexander Puschkins Tod uraufgeführt. Wenn sich heute allerdings einer an dieses russische Bühnenheiligtum wagt, und noch dazu in Moskau, dann muss er Wodka und Seele in den Adern haben; und Mut. Den Mut zumindest, den hat er gehabt, der schottische Regisseur Declan Donnellan, als er Puschkins "Godunow" im vergangenen Jahr auf die Moskauer Gorki-Theater-Bühne brachte. Oder besser: auf einen zwanzig Meter langen Catwalk (gebaut von Donnellans langjährigem Bühnenbildner Nick Ormerod), der jetzt, am Theaterspektakel, die Werft durchzieht – wie der schwere Weihrauch, wie die priesterlichen Gesänge, die das hereinströmende Publikum einhüllen. Folklore? Schnickschnack! – weiss auch Donnellans frisch gekrönter Godunow, der den goldenen Ornat achtlos beiseite wirft. Daheim ist er im Anzug, zigarettensüchtig, voller Zweifel, voller Überdruss. Ein Moderner.

So schickt Declan Donnellan die Adligen, die Zarenthron-Aspiranten über den Laufsteg: als Putin-Visagen, als Blair-Clinton-Schröder-Show-master, als Politmanager, die, selten, das eigene Gewissen fürchten, und oft die Masse, die da auf den Tribünen der Werft, den billigen Plätzen der Geschichte hockt und ihre (Vor-)Urteile blökt. Der Spot springt mal hier-, mal dorthin, in harten Schnitten geht Schlachtengetümmel in mönchisches Zischeln, gehen Liebesszenen in Krisensitzungen über. Shortcuts. Am Schluss wird Godunows Leiche zur Linken liegen, der Usurpator Dimitri glücklich schlafend in der Mitte, und Godunows Söhnchen, erschöpft von der Bürde des Ornats, krümmt sich zur Rechten. Die schwerelose TV-Choreographie macht aus dem Klassiker eine anmutige Neuentdeckung. Nicht ohne Verlust: Wo Epos war, ist "well made play". Wenn auch mit brillanten Schauspielern, Ensemblemitglieder von Moskauer Theatern, die Gier und Angst, Berechnung und selbst Offenheit mit beachtlicher Verhaltenheit geben. Nicht ohne Gewinn: Wo Fremdheit war, ist Kühle, Schnelligkeit und – Verstehen. Klar und karg, nur bisweilen zu simpel, hat der Schotte die Geschichte um Mord und Macht bebildert. Da darf gejubelt werden: Bravo, Donnellan!