"NOCH EIN VAN GOGH"

Moskauer Deutsche Zeitung №8
04.2000
Irina Batujewa

Dekorationen in schwarz-weißen Tönen. Die Situation erinnert an ein Krankenzimmer und gleichzeitig an ein Gefängnis: Betten mit Stahlfedern stehen im Quadrat aufgestellt da und dienen als flexible Kulisse. Die Bühne ist grell erleuchtet: Wie in einem Zimmer, in dem eine nackte elektrische Glühlampe an der Decke hängt. Eine Irrenanstalt.

Die Inszenierung "Noch ein van Gogh" feierte vor nicht allzu langer Zeit ihren 2. Geburtstag. Doch wie viele Stücke des Theaters "Tabakerka" ist es nach wie vor immer ausverkauft. Inszeniert hat es einer der interessantesten Regisseure Moskaus, Walerij Fokin. Fokin ist ein Anhänger der Theaterschule von Wsewolod Meyerhold, der der Lieblingsschüler Stanislawskijs war, aber sein eigenes System eines neuen Theaters schuf, das eine Alternative zum in der ganzen Welt anerkannten System seines Lehrmeisters darstellt. 1940 wurde er von der Sowjetregierung als ein ideologischer Gegner des Regimes erschossen.

Bei Fokin gibt es stets Unorthodoxes und überraschende Effekte. Vor einigen Jahren inszenierte er nach dem Gogol-Roman "Die toten Seelen" ein mystisches Stück, in dem der Hauptheld nur in seinem Hotelzimmer zu sehen war. All seine Abenteuer, alles, was er außerhalb des Zimmers tat, blieben unsichtbar und wurden nur durch das Privatleben des Helden erklärt, durch sein Verhalten in der häuslichen Atmosphäre.

Die Inszenierung Fokins "Noch ein van Gogh" beginnt, sobald der erste Zuschauer in den Saal kommt. Der Saal ist klein, so dass die Bühne nicht entrückt erscheint. In den Kulissen befinden sich bereits die in seltsamen Posen, wie Mannequins erstarrten Schauspieler. Man ertappt sich bei dem Gedanken, dass dies keine lebenden Menschen sein können: Sie stehen zehn Minuten bewegungslos da. Schließlich beginnt die Handlung...

Ein junger begabter Maler, ein zeitgenössischer van Gogh sozusagen, wird in einer psychiatrischen Klinik behandelt. Jedes Mal, wenn er an einem neuen Bild arbeitet, unternimmt er einen neuen Selbstmordversuch. Das geschieht aus einer ungeheueren Enttäuschung über sein Unvermögen, die eigenen Emotionen auf der Leinwand wiederzugeben.

Jewgeni Mironow verkörpert den Maler. Er gilt als einer der besten russischen Schauspieler, und wenn sich die eigenen Klicke mit seinen klaren, dunkelblauen Augen treffen, huschen einem Kälteschauer über den Rücken und man bedauert, so nahe an der Bühne zu sitzen.

Der Maler wird auch von seiner Mutter besucht, die vom Verkauf der Bilder ihres Sohnes lebt. Ihr stilvolles ockerfarbenes Kostüm ist der einzige Lichtblick im spartanischen Krankenhausinterieur. Wie jede Mutter möchte sie, dass der Sohn "so wie alle anderen" ist, ohne diese seltsamen psychischen Probleme. Gleichzeitig sollte er auch in seinem Schaffen erfolgreich sein, was versländlicherweise unmöglich ist. Das spürt sie intuitiv auch selbst. Hinter ihrem demonstrativen Übermut verbergen sich Schmerz, ein Schuldgefühl und Angst. Die Mutter wird von der Schauspielerin Jewdokija Germanowa verkörpert.

Der behandelnde Arzt, gespielt von Andrej Smoljakow, ist sich seiner eigenen Normalität und ergo auch der Abnormität des Patienten nicht vollends sicher. Am Ende des Stücks zweifelt er gar, ob eine Behandlung des jungen Malers überhaupt nötig ist.

Die Handlung verlagert sich allmählich aus dem realen Leben in die innere Welt des Malers, in eine Welt krankhafter Emotionen, wo jede Farbe lebendig ist und ihr eigenes Gesicht, ihre Figur, ihre Stimme besitzt. Angespannt versucht der Maler, ihre Geheimnisse zu erraten und sie sich gefühlsmäßig zu eigen machen. Mit den Händen macht er die Farben weich und geschmeidig und verschmiert die Masse auf seinem ganzen Körper, auf den ihn umgebenden Gegenständen. Die Farben streiten miteinander und mit dem Maler, wobei sie ihre eigenen Namen schreien und eine Bevorzugung fordern. Sie zerreißen seine Seele in Stücke, und für den Maler bleibt letztlich das Geheimnis des Schöpfertums verschlüsselt.

Das Stück stellt die Frage nach der Natur des Talentes, das irgendwo ganz nah am Wahnsinn existiert. Noch ein van Gogh, noch ein Maler, der Selbstmord begeht, wird da durch die eigene Genialität in den Untergang gedrängt. Van Gogh, nicht der reale, sondern ein ewiger, ist in der Handlungsatmosphäre stets präsent. Sein Name ist bloß ein Symbol für das Künstlerschicksal.

Die wunderbare Körpersprache der Schauspieler und die ausgezeichnet einstudierte Choreographie helfen, die Phantasien auf der Bühne zu verwirklichen. Um Jewdokija Germanowa wird einem mitunter einfach Angst und Bange: Sie hat solche riskanten Tricks auszuführen. Einmal wird sie beispielsweise so an den Beinen herumgeschleudert, dass man meint, sie würde jeden Augenblick mit dem Kopf auf eines der eisernen Betten aufschlagen.

Das Stück erinnert in gewisser Weise an einen Schamanentanz. Die Mimen sprechen, singen und bewegen sich in ihrem eigenartigen Rhythmus. Schrittweise unterwerfen sich auch die Zuschauer diesem Rhythmus und verlieren im Chaos des Geschehens das Gefühl für Zeit und Realität. Doch an irgendeinem Moment erraten wir endlich, aus was für einer Entfernung und unter welchem Winkel man am besten die allgemeine Unordnung anschauen muss. Und die einzelnen Szenen ergeben wie einzelne Striche und Tupfer auf einem impressionistischen Bild etwas Ganzes. Dieses Ganze ist eine besondere Welt, in die der ewig einsame und ewig suchende Maler durch die gnadenlose Gewalt seines Talentes geschleudert wurde.