"TEXTE UND ZEICHEN" UND "KULTUR AKTUELL"

Norddeutscher Rundfunk, Südwestdeutscher Rundfunk
09.24.1999
Sven Ricklefs

"Hamlet", Peter Stein, Gastspiel Reihalle München 23.09.1999

Auf deutschsprachigem Boden hätte man das wohl kaum von ihm gesehen: Hamlet im Discofeaver, Rosenkranz und Güldenstern als mähnige Popbarden, Ophelia an der E-Gitarre und der erste Schauspieler als Marlene Dietrich in einer Travestie-Nummer: Peter Stein inszeniert "Hamlet" in Russland und gönnt sich ein kleines Aktualitätenhopping. Der Hüter der Werke und bekanntermaßen heftig Humorlose plötzlich als bemühter Zeitgenosse, dahinter steckt wohl weniger der zur Moderne konvertierte als vielmehr der Missionar Stein, der diesen "Hamlet" in Moskau nach eigenen Worten einem jungen russischen Publikum erzählen wollte, das Shakespeare nur vom Hörensagen kennt. Ob diese hohlbeinigen Aktualisierungen dem russischen theater tatsachlich neues Zuschauerpotential zuführen, kann hier nicht entschieden werden, auf Gastspieltour muß sich Stein allerdings als europaischer Regisseur messen lassen, nicht zuletzt an seinen eigenen Arbeiten, bei denen allerdings Shakespeareinszenierungen wie etwa bei den Salzburger Festspielen schon immer zu den Steinschen Fehltritten der Güteklasse gehörten.

Wohl irgendwie darum wissend hätte Peter Stein diesen Shakespeare in deutscher Sprache nie inszeniert, auch das eine Aussage des Regisseurs, in Russland aber habe er einen Hamlet gehabt, deswegen habe er diesen Hamlet machen müssen. Und einen Hamlet hat er tatsächlich, den 3ojährigen Jewgeni Mironow, der schon Steins Moskauer Orest war. Er spielt den zagen Zauderer als stürmische Seele, als einen dem eigenen hellen Kopf Nachzappelnden, dessen ungeheure intellektuelle Präsenz den Geist so aufklart, daß sie diesen notwendigerweise, wenn auch erst In letzter Konsequenz, untätig machen muß. Deswegen spielt dieser Hamlet, spielt Theater, spielt den Wahnsinn, die Verwirrung, spielt sich von der Tat fern, die er am Mörder seines Vaters und Schänder seiner Mutter in Personalunion, die er an seinem Onkel eigentlich begehen müßte. Statt dessen darf dieser Hamlet sogar noch Saxophon spielen, im Trio mit Rosenkranz und Güldenstern gibt das Schnulzenpop der Sonderklasse, auch das wohl ein Zugeständnis des Regisseurs Peter Stein an seine Vorstellung von Jugend.

So weit, so gut: das ist trotz allem bestes, höchstes Schauspielertheater wie Mironov da im schnellen Ab und noch schnellerem Aufsprung auf die achteckige Spielfläche für immer noch eine Runde diesen ungeheuren Druck herausspielt, unter dem sein Hamlet steht, wie da mit technischer Brillianz sekundenschnell Seelenfarben über das Gesicht fliegen, wie es ihn kaum hält auf Stühlen, Plätzen, wie es ihn am Saxophon verbiegt und wie es ihn dann doch immer wieder überkommt, diese Sehnsucht nach der einzigen Tat, die alles, zumindest für ihn, lösen könnte: die Sehnsucht nach dem Selbstmord. Wie gern spielt dieser Hamlet mit seinen Schlagadern. Dabei sind Peter Stein, der auf einem achteckigen Podest inmitten von Zuschauertribünen spielen läßt, fast requisitenlos im Scheinwerferlicht, immer wieder große Szenen gelungen; Hamlets Konfrontation mit der Mutter etwa, die fast in einer inszestiösen Besteigung gipfelt, seine einsamen Reflexionen, die sonst oftmals nur als tiefer Blick ins Sprichwörterlexikon daherkommen, oder sein Todesmoment, den er – fast wieder ein Kind – in den Armen des Freundes Horatio aushaucht. Da liegt er dann am Schluß in der Bühnenmitte einsam im grellen Licht, bis der Geist des Vaters Ober ihn eine weiße Decke des Erbarmens ausbreitet. Im Gegensatz zu Moskau endet die Inszenierung hier, kein Fortinbras als martialische Kampfmaschine deutet mehr alzu besserwisserisch in die russische Zukunft, in der alles nur schlimmer werden kann. Doch ein Hamlet macht noch keinen Hamlet, das zeigt auch diese Inszenierung, die neben den bereits erwähnten altbackenen Modernismen viel huftrappelndes Gestentheater um Hamlet herum mit sich bringt, ein Theater, das oftmals nicht Schritt hält mit dem Darsteller seiner Titelfigur und das mehr die allzu bekannte Geschichte von Hamlet zur Schau stellt, als das es zu einer wirklichen Teilhabe herausfordert. Da recken sich dann doch die Arme zum vielbeschäftigten Himmel, verzerren sich Mienen zum stummen Schmerz, versinkt Russland gleichsam im ungezügelten Schau-Spiel und mit ihm Peter Stein, der dieses Land allerdings nach eigenen Worten für die letzte Fluchtburg hält, in der Theater noch so verstanden wird, wie er es versteht. Doch in diesem Kontext kann auch ein noch so brillianter Hamlet nicht wirklich anrühren, nicht seine Qual, nicht sein Zweifel, nicht einmal seine von Peter Stein ohnehin merkwürdig unterbelichtete Liebe zu Ophelia, die dann noch durch deren prämortalen Soloauftritt mit E-Gitarre und Wollsöckchen völlig diskretitiert wird. Es ist ein merkwürdig disperater "Hamlet", den Deutschlands selbstgekrönter Hochintellektuelle Peter Stein da inszeniert hat, ob Seelen oder Ödipusqual, ob private Tragödie oder politisches Ränkespiel, ob Tat oder Nichttat, alles aber alles nicht wirklich scheint ihn interessiert zu haben. Was dabei herausgekommen ist, ist ein lauwarmes Wechselspiel mit Lichtblicken. Und das ist zu wenig.