SAFTIGER DÄNE

Süddeutsche Zeitung
09.25-26.1999
Egbert Tholl

"Hamlet" auf Russisch: saftig, kraftvoll, pathetisch. Mit einem Wunsch-Ensemble hat Peter Stein letztes Jahr in Moskau Shakespeare inszeniert, jetzt ist er damit zu Gast in der Reithalle (noch Samstag um 19.30 Uhr). Voller Rücksicht auf die theatralen Gepflogenheiten des Entstehungsorts hat der Weltschauspielzampano gewaltig die slawische Seele massiert. Heraus kam ein Schmierenstück für Intellektuelle.

Denn die Inszenierung ist gänzlich frei von einer durchgehenden Idee. Im angehippten Programmheft verkauft Stein dies so: "Sehr bald erkannten wir ... die absichtliche Diskontinuität." Deshalb ist Hamlet zu Beginn ein introvertierter Grübler, der auch bald Geschmack an Party und nackten Weibern (Wiktorija Kulikowa und Tatjana Timofejewa) findet. Hervorragend fechten kann Eugen Mironov, und wunderbar weich sein Russisch aus dem weichen Gesicht fließen lassen. Dazu gibt's deutsche Übertitel, die entweder gerade die falsche Szene übersetzen oder nur die Hälfte des Textes wiedergeben. Doch dies hat Methode, denn für junge Leute soll der Abend sein, die darf man nicht mit zu viel Literatur belasten.

Dafür wird gerannt und geschrien, die Zuschauerränge, die die nackte Zentralbühne rahmen, rauf und runter. Dafür wird die schöne Ophelia (Elena Sacharowa) sehr schnell sehr irr. Dafür tauchen neue Russen (Polonius und die Party-Girls) auf – und wieder ab. Dafür spielt Hamlet Saxofon, denn der Musiker als solcher ist innerlich. Dafür bewahrt die Königin auch in höchster Bedrängnis eine elegante Handhaltung. Dennoch: Manchmal rührt das Spiel, die singende Sprachmelodie. Wenn Ophelia eine dunkle, von der Schminke gefärbte Träne über ihr Kindergesicht läuft. Oder wenn der Vatergeist am Ende den toten Sohn mit seinem Kopftuch bedeckt und auf dessen Brust ruht. Als wolle er sagen: "Junge, jetzt ist aber Ruhe, nach der vierstündigen Hampelei."