EIN TROTZIGER AUTIST

Süddeutsche Zeitung
09.23.1999
Petra Hallmayer

Peter Steins Moskauer "Hamlet"-Inszenierung in der Reithalle

Alle Schauspieler lieben diese Rolle. Die Leidenschaft, die rückhaltlose Hingabe, mit der Jewgeni Mironow über Hamlet spricht, hat aber etwas Besonderes. Dabei, erklärt er, der heute Abend als von Zweifeln gequälter Dänenprinz in Peter Steins 1998 entstandener Moskauer Inszenierung in der Reithalle zu sehen wird, wollte er Hamlet nie spielen. "Ich bin ein Mensch, der eher handelt als grübelt – gar kein typischer Russe." Jessenins "schwarze Braut"-Schwermut ist ihm fremd. Jewgeni Mironow ist hellwach, er hat einen schönen, schnellen, lakonischen Witz.

"Hamlet" ist seine zweite Arbeit mit Stein nach dessen großer russischer "Orestie". Er erzählt unverblümt, wie alle Mitwirkenden während Steins Aischylos-Einfiihrungen gnadenlos der Schlaf übermannte. Einige Schauspielerinnen glaubten anfangs gar, "die Orestie sei eine Frau" und wollten die Hauptrolle spielen. Später jedoch hätten sie begriffen, was diese Arbeit bedeutete: "Stein hat uns einen Kosmos eröffnet." Damals, meint er, sei es undenkbar gewesen, ihm zu widersprechen.

Diesmal war alles anders. "Bei der ersten Probe hat Stein uns erklärt: "Ich weiß nicht, wie man "Hamlet" spielen soll." Dann begann er, wie ein Forscher gemeinsam mit uns jede Nuance, jede Schattierung des Textes zu erkunden. Stein gilt als Despot – bei "Hamlet" war er das Gegenteil." Einen jungen Hamlet, "einen sich in trotzigem Autismus verbarrikadierenden, verwöhnten Jugendlichen", hieß es, zeige Mironov. Tatsächlich ist er 30, aber in seiner Begeisterung, seiner Offenheit, seinem Getriebensein wirkt er jünger.

Die Kritik nahm Steins russischen Shakespeare gespalten und eher verhalten auf. Ein "genial einfacher Hamlet" sei ihm gelungen, befand ein Rezensent, während andere ihm Mangel an großer Konzeption vorwarfen. Für Mironov liegt gerade darin die Stärke der Inszenierung. Stein, meint er, versuche nicht klüger zu sein als Shakespeare.

Peter Steins von der Presse immer wieder zitierte Bemerkung allerdings, dass sich sein "Hamlet" an ein junges russisches Publikum richte, "das Shakespeare nur vom Hörensagen kennt", hat wohl mehr mit deutschen Fantasien über das moderne Russland zu tun als mit der Wirklichkeit. Darüber schüttelt Jewgeni Mironow nur kurz und entschieden den Kopf.

Derzeit herrscht in Moskau ein veritables Hamlet-Fieber, gleich vier Bühnenversionen gibt es. Woher dieses Interesse kommt? Ach, meint er: "Wir stehen doch jeden Tag vor der Frage "Sein oder Nichtsein"."

Auch um "Hamlets" Existenz müssen die Schauspieler kämpfen. Steins aufwendige Bühnenkonstruktion ist zu teuer für russische Verhältnisse. So haben sie schließlich ohne diese in einem ausverkauften Zirkuszelt gespielt. Und sie wollen unbedingt weiterspielen.

Dabei hat Mironov keinen Mangel an Möglichkeiten. In Russland ist er ein Star. Er spielte in vielen Filmen und ist regelmäßig am Tabakov-Theater, in dem sich das junge Moskau trifft, zu sehen. "Nach den Vorstellungen", meint er lachend , "ist jeder von uns ein kleiner Leonardo DiCaprio. Scharen von Mädchen reißen die Schauspieler in Fetzen." Dann spricht er wieder über Hamlet, darüber, dass sein Spiel noch nicht das gewünschter Niveau erreicht habe, über die geniale Einfachheit der Geschichte, anhand derer Shakespeare so existenzielle Fragen aufwirft.

Immer noch entdecke er ständig Neues. "Ich habe mich," meint er mit dem selbstverständlichen Pathos, das uns so russisch erscheint, "in Hamlet verliebt, den ich nie leiden mochte. Heute weiß ich nicht, wie ich irgendwann ohne ihn weiterleben soll." Immerhin hat er für diese Liebe das Rauchen aufgegeben. "Hamlet ist Nichtraucher." ("Hamlet", Reithalle, Heßstraße 132, Beginn 19.30 Uhr.)