ES WAR WIE BEI ASCHENBRÖDEL

München Merkur №196
09.22.1999
Sabine Dultz

Peter Steins Moskauer gefeierter Hamlet: Münchner Gespräch mit Eugeni Mironov

Beim Vorsprechen hat er Regisseur Peter Stein auf Russisch geleimt – und wurde engagiert: Schauspieler Eugeni Miro-nov aus Moskau. Jetzt gastiert er mit Steins "Hamlet" in München. In einem Gespräch mit unserer Zeitung sagt er, dass er nicht Hamlet spielen, sondern dass er Hamlet sein will.

"Wenn man Hamlet spielt, kann man alles spielen." Und Eugeni Mironov strahlt in der Tat diese innere Selbstsicherheit, diese bescheidene Bestimmtheit, diese ruhige Überlegenheit aus, die ihn, den eigentlich unscheinbaren, zierlichen jungen Mann, so überzeugend macht. Gerade dreht der Schauspieler in Russland, seiner Heimat, einen Film zum 45. Jahrestag des Kriegsendes. Doch die Dreharbeiten wurden unterbrochen, der "Chefaufklärer", den er in dem Film spielt, tritt zurück hinter den Dänenprinzen. Von Donnerstag bis Samstag (23.-25. 9., mit deutschen Übertiteln) ist in der Münchner Reithalle(Tel. 089/ 12 16 23 71).

Peter Steins gerühmte Moskauer Inszenierung von Shakespeares "Hamlet" zu sehen. Mit Mironov in der Titelrolle. Am Montag kamen die Schauspieler in München an. Quartier aber nahmen sie in Bad Tölz. Mironov: "Unsere Sommersresidenz; eine
... der Ruhe."

— Gerade ist Raissa Gorbatschowa gestorben. Betrifft Sie das?


— Natürlich hat das eine Bedeutung für uns. Es gibt in unserer Geschichte nur wenige Beispiele einer so großen Liebe wie die zwischen Gorbatschow und seiner Frau. Das gab es zuletzt nur ... Alexander II., und seiner Frau. Es ist eine Tragödie für Gorbatschow. Ich glaube, das ganze Land ist traurig, obwohl das Ansehen Gorbatschows nicht so hoch ist. Aber der Schmerz vereinigt die Menschen.

— Welche Rolle spielt der Tod in der Arbeit des Schauspielers?

— An den Tod kann und darf man sich nicht gewöhnen. Der Tod ist erschreckend. Es gibt nur einen, der diese Angst vor dem Tod überwunden hat: Jesus Christus. Den Tod durch den Tod besiegen, das gelingt keinem von uns.

Was den Tod in "Hamlet" angeht, ich sehe das so: Das ganze Stück über will er sterben, am liebsten würde er sich selbst umbringen. Ihn hält nur eins am Leben: die Frage seines Monologs "Sein oder Nichtsein". Er weiß nich, was danach kommt. Am Ende, wenn er stirbt und diesen Moment des Strebens begreift, dann will er das plötzlich nicht mehr. Denn er hat ja den Zuschauern noch nicht alles erzählt. An Steins Aufführung gefällt mir besonders gut der Schluss. Die Spielstätte ist wie eine Arena. Hamlet ist ganz dicht an den Zuschauern, den Zeugen des Finales. Ich sehe überall Gesichter ihr Staunen – und habe den Eindruck, ihnen noch nicht alles gesagt zu haben. (Lachend.) Obwohl ich doch das ganze Stück über geredet habe.

— Sie haben mit Peter Stein schon die "Orestie" gemacht. Wie kam es dazu?

— Ich wurde in meinem Theater, dem Tabakov, in Moskau, angerufen, ich sollte Videoaufnahmen von mir abgeben, da Peter Stein einen Orest suche. Ich schickte eine Kassette ein. Nach einem Monat erfuhr ich, dass er zwei Schauspieler ausgewählt habe, die für die Rolle in Frage kämen und die er kennen lernen wollte. In München. Ich schäme mich: Ich hatte bis dahin die Orestie des Aischylos nie gelesen. Also ich kam zum ersten Mal in meinem Leben nach München. Das war 1993. Für drei märchenhafte Tage. In Moskau habe ich gesagt, ich sei krank. Ich kam mir vor wie ein Hochstapler. Zum Vorsprechen wählte ich einen Monolog aus einem Stück, das ich gerade im Tabakov spielte, und sagte, dies sei aus der "Orestie". Stein konnte ja kein Russisch. Ich sprach mit viel Pathos und Dramatik. Plötzlich machte Stein etwas Merkwürdiges: Er gab mir einen Stock, der sollte wohl ein Schwert sein. Er selbst nahm auch einen in die Hand und lief damit auf mich zu. Ich habe sofort pariert. Damit war die Begegnung beendet. Und ich dachte. Schluss, aus, Ende. Als ich zu Hause ankam, war das Telegramm schon da. Ich bekam die Rolle. Ich kam mir vor wie Aschenbrödel.

— Worin besteht für Sie heute die Aktualität "Hamlets"?

— Ich meine, "Hamlet" ist immer aktuell. Wenn man gut lebt, ist er aktuell, und wenn man schlecht lebt, ist er es auch. Und wenn man nicht weiß, wie man leben soll, ebenfalls. Bei uns in Russland hat er so eine Aktualität, weil wir nicht wissen, wie wir weiterleben sollen.

— Der Schauspieler genoss traditionell in Russland sehr hohe gesellschaftliche Wertschätzung. Hat sich da etwas geändert seit der politischen Wende?

— Ich meine, die Wertschätzung ist immer noch ziemlich hoch. Weil unser land sehr reich ist an Talenten. Der Intendant ... Lichatschow, ist zur Zeit – wie vormals Sacharow – das Gewissen unserer Nation. Und wie wir Jelzin auch einschätzen: Wenn er Unterstützung braucht, fordert er Leute aus der Kultur an. Aber natürlich, die Theater hatten es früher einfacher. Da waren die Schauspieler in unserem Land Legenden, richtige Stars. Die Rolle der Sterne haben jetzt die Politiker übernommen.

— Was erwarten Sie von Ihrem Gastspiel in München?

— Ich will einfach gut spielen. Nein, das Wort "spielen" passt nicht. Hamlet effektvoll und grell spielen, das kann jeder Schauspieler, denn das ist eine sehr gute Rolle. Aber Hamlet sein, das gelingt nur ganz wenigen. Das strebe ich an. Sein oder Nichtsein, Hamlet eben.