DÄNENPRINZ MIT SAXOPHON

Andres Müry
10.12.1998
focus.de

Peter Stein hat in Moskau einen "Hamlet"-Quickie inszeniert – deutschen Bühnen will der russophile Regisseur nur noch den "Faust" schenken

Das erste, was man von dem semmelblonden Prinzen im modischen Schwarz hört, ist kein Wort von Shakespeare, sondern ein Fiepen. Mal kläglich, mal aufsässig kommentiert er mit dem Saxophonmundstück die salbungsvolle Rede seines Onkels, der gerade seine Mutter geheiratet hat. Später legt der Student, der eigentlich nur zur Beerdigung des Vaters heimgekommen ist, eine Beatles-Nummer hin. Seine beiden langhaarigen Jugendfreunde fallen mit E-Gitarren ein.

Jewgenij Mironow, der Hamlet am Moskauer Armeetheater, hat den nervösen Charme eines Hobbyjazzers, der lieber die nächste CD produzieren würde, als den Augiasstall der Eltern auszumisten. Nun ja, nach Jan Kott ist die Tragödie vom Dänenprinzen ein Schwamm, der den Geist der jeweiligen Epoche aufsaugt – warum also nicht auch ein bißchen nostalgisch: Hamlet mit Sax?

Irritierend ist nur der Name des Regisseurs: Peter Stein. Der ist dem Einfallstheater spinnefeind und wird nicht müde, junge Kollegen zu schmähen, die beim Inszenieren ihre Lieblingsplatten auflegen. Und jetzt dies: ein "Hamlet"-Quickie, auf drei Stunden zusammengekürzt, mit altbackenen Modernismen und aktuellen Anspielungen. Die Vergnügungen, in die der König den störrischen Prinzen zu verwickeln befiehlt, gestalten sich als lärmende Disco mit halbnackten Girlies. Die Schauspielertruppe führt sich mit einer "Blauen Engel"-Travestienummer ein. Ophelia, die püppchenhafte rothaarige Jelena Sacharowa, begleitet ihr Wahnsinnsliedchen mit der E-Gitarre. Und Fortinbras kommt am Ende, unter martialischem Kettengerassel vom Band, als Panzerkommandant.

"Es ist an sich schon ein Leichtsinn, den "Hamlet" zu machen, wo ich bekanntermaßen mit Shakespeare Schwierigkeiten habe", sagt Stein mit entwaffnender Offenheit. Neben sich eine Vase mit hängenden Geburtstagsrosen, die Hände im Trenchcoat vergraben, sitzt er in seinem Regiezimmer im Akademischen Theater der russischen Armee, in dem er 1994 schon sein russisches "Orestie"-Remake herausgebracht hat. Nach vier unterschiedlich gescheiterten Versuchen ("Wie es euch gefällt", "Titus Andronicus", "Julius Caesar", "Antonius und Cleopatra") habe er nie im Traum an "Hamlet" gedacht – bis ihn die Russen vor drei Jahren soweit hatten. In Jewgenij Mironow, seinem Orest, sah er zum erstenmal einen möglichen Hamlet: Er wünschte sich, daß der 30jährige Star des Studios Tabakow Saxophon lernte, und schenkte ihm eines – eine für den als verklemmt geltenden ästhetischen Hardliner Stein rührende Geste.

"Rußland ist die letzte Fluchtburg, wo Theater noch so verstanden wird, wie ich es verstehe", erklärt er pathetisch. Gemeint: die Schauspieler verstünden hier ihren Beruf noch "quasi religiös". Sie ließen das Publikum an einem Vorgang teilhaben, der es über es selbst erhebe, "zu seiner eigentlichen Bestimmung". Deswegen seien die 120 Theater Moskaus trotz Krise rappelvoll.

Paradoxe Schwärmerei. Denn der russophile Stein hat in seinem "Hamlet" alles getan, um gemeinsame religiöse Versenkung zu verhindern. Der Zuschauerraum des Armeetheaters wird nicht genutzt, nur die riesige Bühne. Das Publikum sitzt auf Tribünen um ein boxringartiges Podest, auf dem unter Scheinwerferbatterien die Show stattfindet. Durchaus sinnfällig: Hamlet ist ein Showman und führt beim Play-in-play, das dem neuen König seinen Meuchelmord am Bruder vor Augen bringt, Regie. Und das letzte Gefecht zwischen Hamlet und Laertes (Dimitrij Stscherbina) ist ohnehin der kompletteste Showdown der Theatergeschichte. Die Raumlösung entspringe "durchaus pädagogischer Absicht", schmunzelt Stein. Lyrische Rampenarien und Innerlichkeitsschauspielerei, für die die Russen berühmt sind, finden nicht statt.

Die Quittung: Allzu elegant, bis auf das dramaturgische Skelett abgemagert, schnurrt der Bühnenkrimi ab. Der tiefere Grund: Stein spricht nach wie vor nicht Russisch und war wie bei der "Orestie" auf Simultandolmetscher angewiesen. Aus vier russischen Übersetzungen, darunter der von Pasternak, entstand eine neue, "die den Wohlklang zugunsten des direkten Sprachgestus des Originals beschneidet". Dabei habe er "entsetzlich mutig" gestrichen – auch aus Frust darüber, "daß ich nicht wirklich in die Sprache hineinhören kann".

Die russischen Schauspieler nehmen's willig hin. Andächtig hängen sie, wenn er per Dolmetscher Kritik übt, an seinen Lippen. Hier wird Stein offenbar noch so verehrt wie damals an der Schaubühne, erscheint es dem Beobachter. Der junge Theaterkritiker Roman Doljanskij scheut sich nicht zu sagen, mit dem "Drei Schwestern"-Gastspiel der Schaubühne am 13. Januar 1989, zum alten Neujahrstag, habe "im russischen Theater eine neue Zeitrechnung begonnen". Die "Orestie", deren Probenanfang im Herbst '93 mit dem Putsch zusammenfiel, adelte Stein damals durch den Hinweis, die Tragödie beschreibe just die Geburt der Demokratie. Daran erinnerte an Steins 61. Geburtstag Walerij Schadrin vom russischen Theaterverband mit einem Witz: "Als wir vor drei Jahren "Hamlet" beschlossen, wurde ich mißtrauisch gefragt: Welche Krise werden wir dann kriegen? Nun, die Krise war pünktlich da."

"Hamlet" ist in Moskau das Stück der Stunde – gleich drei gibt es derzeit auf den Bühnen. Für Schadrin bekam "To be or not to be" im September direkteste Aktualität: Alle russischen Sponsoren sprangen ab, zuvorderst der Magnat Beresowskij. Anders als bei der "Orestie", die zu zwei Dritteln mit deutschem Geld produziert wurde, ließ sich auf die Schnelle keine deutsche Firma als Sponsor gewinnen. Beschämend nennt das Michael Kahn-Ackermann, der Leiter des Moskauer Goethe-Instituts.

Der Theaterverband, bereits durch das Tschechow-Festival, das er veranstaltet, hoch verschuldet, konnte nur durch noch mehr Schulden weiterproduzieren. Das Geld sei indes sinnvoll investiert, betont Stein: Mit den angeschafften Scheinwerfern, der Tonanlage und der Bestuhlung sei der Theaterverband jetzt eine "schlagkräftige Produktionsgruppe".

Im übrigen wettert er gegen den Westen, vor allem gegen den Internationalen Währungsfonds, der, während Millionen Russen die Löhne vorenthalten werden, einen Anti-Inflationskurs anmahne. Für die deutschen Theaterverhältnisse hat Stein ebenfalls nur die üblichen Schimpfworte. Die Bühnen fielen dort reihenweise theaterfremden Managern in die Hände, "mit denen ich nichts am Hut habe". Und sein 30-Millionen-Mega-"Faust" in Hannover? Für Stein ist die Sache klar: "Bruno Ganz ist mein Faust, und direkt nach der "Hamlet"-Premiere fliege ich zum Vorsprechen nach Berlin."

Die neue deutsche Regierung will der Wahlrömer daran messen, ob sie sich an die Finanzzusage der alten hält. "Faust" werde seine allerletzte Schauspielinszenierung auf deutschem Boden – "und die hätte ich lieber in Wien gemacht".

REGISSEUR PETER STEIN

Geboren 1937 in Berlin; der langjährige Schaubühnen-Leiter und Schauspielchef der Salzburger Festspiele lebt heute in Rom, mit "Hamlet" inszeniert er bereits seinen fünften Shakespeare.