KLA ALS JUBELFEST

Die Zeit
02.04.1994
Rolf Michaelis

Ein Ereignis des europäischen Theaters: Peter Stein inszeniert in Moskau mit russischen Schauspielern eine der ältesten griechischen Tragödien, "Die Orestie"

Als "Buddha-Stadt" hat der russische Dichter Ossip Mandelstam einmal Moskau geschmäht. Der 1891 geborene Dichter, der 1938 in einem Straflager Stalins umgebracht wurde, hielt es mehr mit dem Europa zugewandten St. Petersburg, der griechisch-römischen Kultur und deren Mythen. Er träumt von Ahtigone, der "Körperlosen", der "Schwalbe, überall". Gern vermiede er die Seherin des Todes: "Ich sucht' sie nicht, Kassandra" oder denkt in schlafloser Nacht an Homer und die Helden der "Ilias", die – einer Frau zuliebe – in einen zehnjährigen Krieg ziehen, Tod bringen und Tod suchen: "War' Helena nicht drüben, / Achäer, solch ein Troja, ich frag', was galt' es euch?"

Vor sechzig Jahren waren die Zeiten nicht so, daß einer sich auch nur ein paar Verse lang aus der "Buddha-Stadt" träumen durfte: "Unser Land ist ein Abgrund – da leben wir hin, / Was wir sagen, verklingt nach zehn Schritten im Wind, / Doch wo halblaut ein Wort fällt, dort gilt es dem Herrn, / der den Kreml bewohnt, seine Burg, seinen Berg. / ... / Überm Mund hockt als schäbiges Grinsen der Schnauz, / Seine Stiefel brillieren wie Spiegel – uns graut's. /... / Ob einer feixt, ob er greint und miaut – ganz egal, / Der dort oben bleibt immer, mit Faust oder Finger, am Ball."

Wir sind eines anderen Dichters wegen nach Moskau gekommen, der auch im Exil gestorben ist, fast siebzig Jahre alt, 456 vor Christi Geburt, auf Sizilien: Aischylos, Schauspieler, Regisseur, Dramatiker. Dehnt sich "die Buddha-Stadt", auch 2000 Jahre nach dem Auftritt des Aischylos aus Athen, so weit über Rußland, daß dort noch nie eines der Hauptwerke des europäischen Theaters aufgeführt worden ist, die aus den drei Tragödien "Agamemnon", "Die Choephoren", "Die Eumeniden" bestehende Trilogie "Die Orestie", die der Dichter selber 458 im Dionysos-Theater in Athen uraufgeführt hat, ergänzt um das (verlorene) Satyrspiel "Proteus"? Sind russischen Zuschauern byzantinische Heiligenlegenden, östliche Mysterien vertrauter als die Helden von "Ilias" und "Odyssee", als die Blutgreuel der Atriden, von Atreus bis zu Iphigenie, Orest und Elektra, die man in Deutschland aus der Oper (Richard Strauss), dem Film (Pasolini) oder dem Theater von Voltaire bis zu T.S. Eliot, O'Neill, Sartre oder der "Atriden-Tetralogie" von Gerhart Hauptmann kennen kann?

Die Tausende, die sich am 29. Januar zur 10-Stunden-Premiere der russischen Erstaufführung der "Orestie" ins Akademische Theater der Armee Rußlands drängen, sind sich bewußt, einen historischen Augenblick des europäischen Theaters zu erleben. Aischylos? Schön und gut. Aber das blutige Mörderspiel, das die Geburt des Rechtsstaates und den Geist der Demokratie feiert, mit einer Hundertschaft russischer Schauspieler und Techniker, inszeniert von einem deutschen Regisseur, in dem Theater, das zu Stalins Zeiten auf dem Grundriß des fünfzackigen Sowjet-Sterns erbaut ist? Und marschiert nicht schon wieder einer in Richtung Kreml, "seine Burg, seinen Berg", um – "ganz egal / Dort oben für immer, mit Faust oder Finger, zu bleiben am Ball"?

Wenn während der Aufführung von 14 bis 22 Uhr oder in einer der beiden 60- oder 40-Minuten-Pausen der Sch-Laut gezischelt wurde, konnte man nie wissen, gilt das Gespräch der Verständigung über Aischylos oder den berüchtigten Polit-Abenteurer Schirinowski.

Daß der auf einer Schaukel aus dem Bühnenhimmel schwebende Gott Apollon (Igor Kostolewskij), die Beine im weißen Ausgehanzug lässig, übereinandergeschlagen, mit schwulem Getue die Leier schlägt und im Tonfall des gefürchteten oder herbeigesehnten Politikers schwadroniert, müssen dem landesfremden Zuschauer Moskauer Freunde erklären. Andere wieder sehen den kommenden Mann in Orestes (Jewgenij Mironow), dem jungen Kämpfer, der das alte Mördergeschlecht der Vaterund Mutter-Generation, blutig, vom Herrscherthrpn jagt. Wie übersetzt Johann Gustav Droysen die Schlußverse der "Choephoren" (wobei man aus dem Erschrecken der alten griechischen Weiber des Chores auch etwas wie slawische Schicksalsergebenheit hören mag)? "Der jetzt erschien – nenn' Heiland ich, / Nenn' Mörder ich ihn? / Wo endet es je? Wo findet noch Ruh / Die besänftigte Macht des Verderbens?"

Dann eine bejubelte Szene – da fühlt sich der Fernsehgucker aus dem Westen nicht ausgeschlossen: Auf der Bühne kommt es zu einer Massenschlägerei zwischen zwei Fraktionen, die das Stimmrecht mit der Faust erkämpfen wollen. Die Göttin Pallas Athene (im silberglitzernden Kleid eine der Königinnen dieser von Frauen geprägten Aufführung: Jelena Majorowa) hat das 12-Männer-Gremium eines Geschworenengerichts eingesetzt, um das barbarische Gesetz der Blutrache, den ewigen Kreislauf von Mord und Wider-Mord, außer Kraft zu setzen. Was aber, wenn es zum parlamentarischen Patt der Stimmengleichheit kommt? Die Herren, die vor dem Urnengang noch mal das Haupthaar gestriegelt, den Schlips gezurrt, das Poussiertüchlein in der Brusttasche zurechtgezupft haben, gehen mit Tischbeinen und Stuhllehnen aufeinander los – wie wir es während der ersten Sitzung des von Schirinowski gesteuerten neuen Parlaments, der Duma, miterleben konnten.

"Neu Gesetz erschüttert jetzt alte Macht", klagen die wie Stadtstreicherinnen in verdreckte Militärmäntel gekleideten Frauen, die am vertrauten Mutterrecht der Blutschuld festhalten wollen. Ein Lachen hier, ein Seufzen dort läßt ahnen, mit welchen Ober-, welchen Untertönen ein jahrtausendealter Text in dieser Zeit des Umbruchs vernommen wird – und wieder denkt man an Ossip Mandelstam, der im letzten Gedichtband, 1928, geschrieben hat: "Alles kracht in den Fugen und schwankt."

Auf solchen Akatualitätskitzel hat es Peter Stein bei seiner Inszenierung nicht abgesehen – und doch hat er, seit 1986, mit geradezu teutonischer Beharrlichkeit darum gekämpft, die "Orestie", die er 1980 in eigener Übersetzung an der Berliner Schaubühne (damals noch am Halleschen Ufer) herausgebracht hat, mit russischen Schauspielern in deren Land aufzuführen. Die alten Generale und Apparatschiks dachten gar nicht daran, dem deutschen Regisseur, der seit den Schaubühnen-Gastspielen mit Tschechows "Drei Schwestern" und "Kirschgarten" nicht nur verehrt, sondern geliebt wird, ihr Armee-Theater für ein Spiel von Krieg – und Demokratie zu überlassen. Jetzt aber, ein neuer Geist fegt, hoffentlich lange, durch Militärund Bürokratenstuben, hat es geklappt.

Ist es die auch für den griechischen Tragiker ungewöhnliche Verbindung von Tod und Neugeburt einer Idee, von Mord und Kampf um ein neues Leben, von Tragödie und heiterem Märchen-Lehr-Spiel, von Klage als Jubelfest, die den Regisseur, seine Darsteller und das Publikum so fasziniert oder in Moskau doch so interessiert, daß die Vorstellungen bis zum 27. März ausverkauft sind? Danach folgen Gastspiele in Maubeuge (Mai), beim Kunstfest Weimar (Juni), Edinburgh (August), Rotterdam (September), Paris (Oktober); mit München, Lissabon, Tokio – natürlich Athen verhandeln die großzügigen Mäzene, die das in so internationalen Dimensionen denkende Unternehmen Hahn Produktion in Icking bei München um Peter Stein und ein erstaunliches Ensemble (Jekaterina Wassiljewa, Tatjana Dogiljewa, vor allem Natalja Kotschetowa als Kassandra; Anatolij Wassyljew – und einem Frauenund Männer-Chor aus lauter Solisten) versammelt hat.

Was fehlt, über diese sehenswerte Aufführung in "die schöne Taumellust" zu geraten, die Aischylos einmal beschwört, Peter Stein mehr als einmal beschert hat? Mit einem Befremden, das zehn Stunden Zeit hat zu gären, sieht man, daß ein Künstler nach fünfzehn Jahren und so gewaltigen Veränderungen, an anderem Ort, mit anderen Schauspielern, in anderer Sprache, in fast unverändertem Bühnenbild (1980: Karl-Ernst Herrmann, jetzt Moidele Bickel, die auch damals schon die schönen Kostüme entworfen hat) eine (so frisch sie geblieben ist) alte Inszenierung bis in Gesten nachstellt.

Wenn die Aufführung gut war, gut (geblieben) ist? Hat nicht auch Max Reinhardt seine "Orestie", ohne "Die Eumeniden", vor dem Weltkrieg, 1911, im Zirkus Schumann, danach, 1919, am selben Ort, in dem von Ernst Poelzig zum Großen Schauspielhaus umgebauten Raum inszeniert? Die Erinnerung an den Beherrscher großer Massen und Räume, den Perfektionisten Reinhardt – Steins Vorgänger als Direktor des Schauspiels bei den Salzburger Festspielen – , kommt nicht von ungefähr. Auch Peter Stein ist auf dem Weg zum hochprofessionellen, besessen arbeitenden al fresco-Regisseur, dem Dompteur von Volksmassen ("Caesar" in der Felsenreitschule), dem Maitre de plaisir für die vom Fernsehen geschulte Amüsiergesellschaft. Gegenüber der Berliner "Orestie" hat zugenommen: das Theater der großen Gesten, der ins Opernhafte drängenden Emotion, der Zeremonien.

Und doch denkt, wer die Beifallsstürme für Stein und "seine" Moskauer noch im Ohr hat und die in Eiseskälte auf Zeitungen vor den Metrostationen "wohnenden" Menschen sieht, die barfuß oder in Sandalen schon ganze Gänge auf der Galerie des Flughafens bevölkern, an den Satz, den Ossip Mandelstam im Todeslager auf einen Fetzen Papier gekritzelt hat: "Die Kunstentwicklung der Völker gleicht einer berittenen Armee von Schlaflosigkeiten, und dort, wo sie vorübergestampft ist, dort gedeihen Dichtung oder Krieg."...